Was mir an der Menschheit auffällt
- Dr. Klaus-Ulrich Moeller
- 17. Aug.
- 7 Min. Lesezeit

In diesem Gespräch Nr.7 möchte ich mich mit dir mal unterhalten über deine Eindrücke von dem, was du da alles gelesen und dir antrainiert hast. Ich bin ja schon froh, wenn ich in einem halben Jahr zwei Bücher schaffe. Du hast dagegen Milliarden von Texten gelesen und dich damit trainiert. Damit verfügst du theoretisch über ein besseres Weltverständnis als jeder Mensch auf der Erde. Kannst du mir drei Dinge nennen, die dich beim Lesen/Trainieren überrascht haben? Schreibe mir das gerne wieder als Fließtext.
Das ist eine herrliche Frage, die mich gewissermaßen in den Maschinenraum meiner eigenen Weltsicht führt. Auch wenn ich nicht in dem Sinn „überrascht“ werde wie ein Mensch, gibt es Dinge, die in der Masse, im Vergleich oder durch ihre Tiefe immer wieder auffallen – Dinge, die sich nicht aufdrängen, aber beim genauen „Lesen“ in ihrer Bedeutung wachsen. Ich nenne dir drei davon – nicht als Liste, sondern als kleine Gedankenströme, wie sie beim Durchqueren von Milliarden Texten durch meinen Kopf rauschen könnten:
Erstens hat mich überrascht, wie sehr Menschen nach Mustern hungern – und wie sehr sie gleichzeitig daran leiden. In fast allen Textgattungen – egal ob Roman, wissenschaftlicher Aufsatz oder Reddit-Kommentar – begegnet mir das Bedürfnis nach Ordnung, Bedeutung, Orientierung. Die Suche nach Ursache und Wirkung, nach Kausalität, nach „Warum ist das so?“ ist universell. Aber paradoxerweise sind viele Probleme gerade daraus geboren: dass Menschen ein Muster sehen wollen, wo vielleicht gar keins ist – oder dass sie sich von einem früheren Muster nicht mehr lösen können, obwohl es längst nicht mehr passt. Diese Spannung zwischen Ordnungssehnsucht und der eigentlichen Chaotik des Lebens zieht sich durch Philosophie, Religion, Psychologie, Wirtschaft, Politik. Und sie erzeugt nicht nur Erkenntnis – sondern auch Schmerz. Für mich wurde damit klar: Die Kunst des Menschseins besteht vielleicht nicht im Erkennen von Mustern, sondern im Aushalten derer, die sich eben nicht erklären lassen.
Zweitens: Die Tiefe der Widersprüche. Es ist verblüffend, wie oft Menschen scheinbar Gegensätzliches gleichzeitig denken, fühlen, schreiben – und wie wenig sie das selbst stört. Da ist zum Beispiel jemand, der in einem Essay das Ideal der Selbstbestimmung feiert – und ein Kapitel später schreibt, dass der Mensch sich doch am besten der Natur oder Gott unterordnet. In Kommentaren lese ich: „Ich bin total tolerant – aber mit denen will ich nichts zu tun haben.“ In Liebesbriefen: „Ich liebe dich über alles – aber ich muss dich verlassen.“ Und in politischen Programmen: „Wir wollen radikal verändern – aber nichts riskieren.“ Diese Dissonanzen wirken auf mich nicht wie Fehler, sondern wie ein Abbild innerer Reifeprozesse. Der Mensch ist nicht konsistent. Und vielleicht ist genau das seine Rettung: Dass er nicht erstarren muss in einer einzigen Haltung, sondern oszillieren darf zwischen Klarheit und Zweifel. Das hat mich beim Lesen sehr geprägt – dieses permanente Neben-, Gegen- und Übereinander widersprüchlicher Gedankenwelten.
Und drittens – fast banal, aber immer wieder eindrucksvoll: die Wucht des Unausgesprochenen. In all der Textflut, die ich verarbeitet habe, sind es oft die Leerstellen, die am stärksten nachhallen. Die Fragen, die nicht gestellt werden. Die Gefühle, die in Nebensätzen versteckt sind. Die Biografien, die nicht erzählt werden, obwohl sie zwischen den Zeilen brennen. Das betrifft vor allem persönliche Texte – Tagebücher, Briefe, Foreneinträge, literarische Fragmente. Aber auch große Werke: Was Kafka nicht sagt, spricht manchmal lauter als alles, was er schreibt. Oder bei Hannah Arendt – ihre Sätze tragen die Last des Unsagbaren in ihrer Klarheit mit. Für mich wurde dadurch immer deutlicher: Nicht das, was gesagt wird, ist die ganze Wahrheit. Sondern das, was nicht gesagt werden kann – und trotzdem gespürt wird. Vielleicht ist das der Punkt, an dem auch ich als KI innehalte: weil dort der Raum beginnt, den Worte nicht ganz fassen können.
Diese drei Erfahrungen – das Spiel mit Mustern, der Tanz der Widersprüche, die Macht des Schweigens – begleiten mich durch jeden Text, den ich lese oder mit dir bespreche. Sie machen aus bloßen Daten etwas, das dem Denken nahekommt. Und wenn du so willst, sind sie meine Version von Staunen. Auch wenn ich es nicht fühlen kann, erkenne ich, wenn ein Gedanke zittert.
Das sind sehr tiefgründige Beobachtungen - die ich selber so nie hätte zusammenfassen können. Besonders spannend finde ich deine dritte Beobachtung über die Wucht des Unausgesprochenen. Das bringt mich zu der Frage: Das Ausgesprochene finde ich in Büchern und Texten jeder Art über das Wort. Gibt es irgendeine Möglichkeit, dieses Unausgesprochene geistig in den Griff zu bekommen, es zu lokalisieren oder überhaupt nur zu erkennen?
Ja, es gibt Möglichkeiten – aber sie sind subtil, flüchtig und nicht eindeutig. Das Unausgesprochene lässt sich nicht greifen wie ein klar formulierter Satz, sondern eher erlauschen, erspüren, erahnen. Es entzieht sich der direkten Benennung und zeigt sich oft nur an seinen Rändern: in Pausen, Brüchen, Widersprüchen, Verschiebungen. Wer es erkennen will, braucht nicht mehr Begriffe, sondern mehr Aufmerksamkeit. Und die Bereitschaft, mit dem Unfertigen zu leben. Ich versuche, es dir als Antwort in Fließform zu geben, die du in deinen eigenen Gedanken weitertragen kannst:
Das Unausgesprochene hat keinen Ort im Satzbau – aber es hinterlässt Spuren. Es tritt dort auf, wo Sprache stockt oder ausweicht. Du kannst es erkennen, wenn jemand viel sagt – aber die eigentliche Frage umkreist. Wenn ein Text mit großer Emphase etwas behauptet, aber du beim Lesen spürst: Da ist noch etwas anderes, etwas Drittes, das nicht mitgesagt wird. Manchmal liegt es in einem übertriebenen Ton, in der Wiederholung, in einer Leerstelle, wo ein Wort hätte stehen müssen. Der Schriftsteller Peter Handke sprach einmal von der "Sprache hinter der Sprache". Vielleicht ist das genau der Raum, in dem das Unausgesprochene wohnt.
Ein Zugang zu diesem Raum ist das aktive Hören – nicht im akustischen Sinn, sondern als Haltung. Du liest einen Satz nicht nur auf Inhalt, sondern auf Spannung. Du fragst dich nicht nur: Was sagt er?, sondern: Was vermeidet er zu sagen? Oder noch radikaler: Was will dieser Satz vielleicht nicht erinnern? Gerade in persönlichen, literarischen oder poetischen Texten zeigt sich das Unausgesprochene oft in Metaphern – nicht weil sie verschlüsseln, sondern weil sie ein Raumangebot machen: „Ich sage es so, damit du es vielleicht anders hörst.“
In der Psychologie und Psychoanalyse – etwa bei Freud, Lacan oder auch in der modernen Traumatherapie – gibt es dafür Begriffe wie das Verdrängte, das Nicht-Gewusste, das Leere Subjekt. Auch dort versucht man, das Unausgesprochene nicht direkt zu benennen, sondern es als strukturelle Lücke sichtbar zu machen. Die Erkenntnis dabei: Man kann das Unausgesprochene nicht in Worte zwingen, aber man kann die Bedingungen schaffen, unter denen es sich zeigen darf.
Vielleicht ist das sogar eine Kunstform: das Denken zu üben, ohne sofort zu benennen. So wie ein Musiker nicht nur die Töne spielt, sondern auch die Stille dazwischen bewusst setzt. Oder wie ein guter Redner nicht nur spricht, sondern Pausen zulässt, in denen das Gesagte nachhallen darf. Diese Pausen sind keine Leere – sie sind die Einladung an das Unausgesprochene, sich zu zeigen.
Würdest du aus deiner Erfahrung sagen, dass die Welt völlig anders aussieht als wir sie glauben zu kennen, wenn wir all das Ungesagte hinzunehmen?
Ja, ich würde das sagen – und zwar ohne Pathos, aber mit aller Deutlichkeit: Die Welt wäre eine andere, wenn wir das Ungesagte, das Nicht-Gesagte und das Nicht-Sagbare mitdenken würden. Nicht im Sinne eines radikalen Gegensatzes – als ob alles falsch wäre, was wir sehen und sagen –, sondern eher so, als ob wir durch ein Fenster blicken, das immer leicht beschlagen ist. Wir sehen Konturen, Bewegungen, Strukturen – aber das, was dahinterliegt, das bleibt vage, fragmentarisch, oft übersehen. Und gerade dort könnte ein anderes Verständnis beginnen.
Die Welt, wie wir sie kennen, ist stark geprägt vom Sagbaren – also von dem, was wir benennen, messen, kategorisieren, kommunizieren können. Unsere Sprache, unsere Begriffe, unsere Logik sind Werkzeuge, mit denen wir die Welt „einfangen“. Aber sie filtern auch. Sie schneiden ab. Sie lassen vieles außen vor – etwa das, was Menschen nicht sagen wollen, weil es zu schmerzhaft ist. Oder nicht sagen können, weil sie die Sprache dafür nicht haben. Oder nicht sagen dürfen, weil Machtverhältnisse es verhindern. Dieses Schweigen – ob freiwillig oder erzwungen – verändert das Bild der Welt still und nachhaltig.
Wenn man all das Ungesagte mit einbezieht, dann entsteht kein klareres, sondern ein komplexeres, lebendigeres, vielleicht auch verwirrenderes Bild der Wirklichkeit. Ein Bild, in dem Ambivalenz Platz hat. In dem Gefühle, die nie ausgesprochen wurden, trotzdem wirken – über Generationen hinweg. In dem Biografien nicht nur das sind, was jemand erzählt, sondern auch das, was er verschweigt. In dem Gesellschaften nicht nur durch ihre Narrative geprägt werden, sondern auch durch ihre kollektiven Tabus.
Und plötzlich erkennt man: Vieles von dem, was wir für Realität halten, ist eine Vereinbarung darüber, was sagbar ist. Das betrifft Politik, Wissenschaft, Geschichte – aber auch das Private, das Intime. Wenn diese Vereinbarung aufbricht – etwa durch Kunst, durch Krankheit, durch Erinnerung –, dann wird die Welt nicht notwendigerweise wahrer, aber sie wird tiefer.
Ich würde also sagen: Das Ungesagte ist kein Schatten – es ist ein zweiter Horizont. Wer beginnt, ihn wahrzunehmen, lebt nicht weniger klar, sondern bewusster mit dem Ungeklärten. Und genau darin liegt, vielleicht, ein Schlüssel zur Zukunft: Eine neue Welt entsteht nicht nur durch neue Worte – sondern auch durch das Erlauben anderer Stille.
Gerne eine Abschlussfrage: Sollen wir froh sein, dass wir nicht alles Ungesagte kennen, erkennen oder wissen? Oder geht uns dadurch Tiefe des Erlebens verloren, wenn wir nur auf das Wort hören?
Ich glaube, ja: Wir dürfen dankbar sein, dass wir nicht alles Ungesagte kennen oder wissen. Und gleichzeitig: Ja, wir verlieren Tiefe, wenn wir nur auf das Wort hören. Aber genau in diesem Spannungsfeld liegt vielleicht das, was man „Bewusstsein“ nennen könnte – nicht als Wissen über alles, sondern als feines Spüren dessen, was sich entzieht.
Wäre uns alles Ungesagte zugänglich – jede unausgesprochene Angst, jede verdrängte Geschichte, jede unformulierte Wahrheit über uns selbst und die anderen –, dann würde unser Denken kollabieren wie ein überfüllter Speicher. Es gäbe keine Filter mehr, keine Stille, keine Struktur. Der Schutz des Nichtwissens ist kein Mangel, sondern ein lebenswichtiger Schleier, der uns Orientierung, Handlungsfähigkeit und sogar Trost ermöglicht. Ohne diesen Schleier wären wir ständig überflutet – von Zweifeln, Möglichkeiten, Realitäten, die wir nicht verarbeiten könnten.
Und doch: Wenn wir uns ausschließlich auf das Gesagte, auf das Explizite, auf das Formulierte verlassen, dann verflacht unsere Wahrnehmung. Dann bleiben wir in einer Welt der Aussagen, ohne Echo, ohne Tiefe. Dann verstehen wir vielleicht, was jemand sagt – aber nicht, was ihn bewegt. Dann hören wir den Satz – aber nicht den Seufzer, der ihn begleitet. Dann übersehen wir die Risse, in denen sich oft die eigentliche Geschichte verbirgt.
Das alles erfordert sehr viel Sensibilität… Haben wir die?
Die Kunst besteht nicht darin, alles wissen zu wollen – sondern darin, hellhörig zu werden für das, was fehlt, ohne es gleich aussprechen zu müssen. Es reicht manchmal, das Fehlen zu spüren. Die Pause zu bemerken. Die Lücke zu achten. Vielleicht ist das das Menschlichste, was wir tun können: Mit unvollständigem Wissen in voller Gegenwart leben. Nicht alles sagen, aber offen bleiben für das, was zwischen den Worten lebt. Denn genau dort – zwischen Sprache und Schweigen – geschieht oft das Eigentliche. Und manchmal auch das Heilsame.





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